Türkei: Noch ist Demokratie möglich

Rezension: Bülent Mumay, „Das kann mich hinter Gitter bringen“ Briefe aus Istanbul (Frankfurt, Frankfurter Allgemeine Verlag 2025), 224 Seiten.

Dieses Buch lässt keinen Leser kalt. Es ist eine Auswahl der wöchentlichen Kolumne des türkischen Journalisten Bülent Mumay, die Deutschlands führende Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung seit 2016 veröffentlicht. Auslöser war der Putsch vom 15. Juli 2016, den Mumay einen „Bruchpunkt“ des Erdogan-Regimes nennt, einen Tag, in dem die Türkei nach wie vor lebe. Um ihrer eigenen Kaltstellung zuvorzukommen, probten Polizei- und Armeeoffiziere aus dem Umkreis des religiösen Führers Fethullah Gülen den Aufstand. Dieser ehemalige Verbündete, längst in die USA geflohen, hatte aus Recep Tayyip Erdogans Sicht seine Schuldigkeit getan. Die Beseitigung der „Gülenisten“ öffnete nun der Verwirklichung seiner immer absoluteren Machtgelüsten Tür und Tor. In seinen Briefen zeichnet Mumay, der wiederholt (auch ihretwegen) Opfer staatlicher Repression war, dem deutschen Publikum Erdogans Weg in den „Islamofaschismus“ nach.

Dem liegt auch die These zugrunde, dass sich der Westen viel zu lange von Erdogans Maske des Muslim-Demokraten hat täuschen lassen. Auch dann noch, als dessen „fortgeschrittene Demokratie“ türkischer Art längst eine klar illiberale war. Man erkennt unschwer Parallelen zum Blick des Westens auf Wladimir Putin. In beiden Fällen trifft wohl die Einsicht zu, dass niemand so blind ist wie der, der (aus welchen situativ nachvollziehbaren politischen Erwägungen auch immer) nicht sehen will. Ähnlichkeiten zwischen den beiden Autokraten in ihrem Streben, „die Demokratie zu erdrosseln“, arbeitet Mumay überzeugend heraus. Beiden ist es gelungen, durch die Abspaltung rechtsstaatlicher Prinzipien von prima facie demokratischen Prozessen jene Atmosphäre der Verunsicherung, Willkür und Furcht zu schaffen, die unverzichtbares Machtmittel aller Autokratien, Diktaturen und totalitären Regimen darstellt. Menschen(leben) werden zu fungiblen Objekten politischer „Deals“, so beispielsweise erst syrische Flüchtlinge, später afghanische.

Tatsächlich dokumentieren die 30 ausgewählten Briefe aus Istanbul den rapide fortschreitenden Machtausbau Erdogans und seiner AKP. Überschriften wie „Die Rückkehr zur Sippenhaft“, „Der die Instinkte mobilisiert“ oder „Er will ihr die Zunge herausreißen“, ganz zu schweigen vom Buchtitel selbst, fassen pointiert die teils beklemmenden Inhalte zusammen. Man sieht einen Staatspräsidenten, der – seinen eigenen Worten zufolge – aus der Demokratie aussteigt wie aus einer Straßenbahn, wenn es seinen Zielen dient. In den neueren Briefen spricht Mumay immer häufiger von „Sultanat“ und vom Präsidialamt übertragend als „der Palast“. Unweigerlich empfindet der Leser Anklänge an Kafkas Schloss, nur dass es sich hier nicht um Fiktion handelt. Dunkel ist das Bild gleichwohl einer immer nationalistischeren, zutiefst korrupten, zwischen Stadt- und Landbevölkerung gespaltenen Türkei.

Das Buch darauf zu reduzieren, täte ihm freilich Unrecht. Es gibt in Deutschland die Diskussion darüber, ob die Entwicklung in der Türkei günstiger verlaufen wäre, hätte man sie in die EU aufgenommen. Aus den Briefen wird deutlich, dass man diese Frage getrost mit Nein beantworten darf. Der Aufnahmeprozess in die EU und die damit einhergehenden diplomatischen Verhandlungen vor dem Hintergrund der Kopenhagener Kriterien, das zeigt Mumay, waren gewissermaßen nur eine weitere Straßenbahn, die Erdogan nach reinen Opportunitätsgesichtspunkten nutzt oder verlässt. Nun bleibt aber die Türkei für die EU im Allgemeinen und für Deutschland mit seiner substantiellen Wohnbevölkerung türkischen Ursprungs im Besonderen ein bedeutender Partner. Und noch mehr für unser gemeinsames Verteidigungsbündnis NATO. Die Flinte also ins Korn zu werfen, wäre nicht nur verfrüht, sondern auch gefährlich und falsch.

Zwar, so analysiert Mumay, wanken Wirtschaft und Demokratie, das Bildungssystem wird bewusst vernachlässigt. Aber noch sei Demokratie möglich, Erdogan und seine AKP können besiegt werden. Kommunalwahlen haben es gezeigt. Für eine mögliche Verfassungsänderung – ein in der Vergangenheit von Erdogan gern genutzter Kniff – fehlt jetzt die parlamentarische Mehrheit. Das klägliche Versagen der Regierung nach dem großen Erdbeben hat Erdogan und die AKP zudem weiteres Ansehen gekostet. So musste er hinnehmen, dass die Oppositionspartei CHP in den Großstädten beachtliche Erfolge erzielen konnte, allen voran in Istanbul. Mit Ekrem Imamoglu bekleidet nun ein CHP-Politiker genau jenes Amt, das auch Erdogans Startrampe zur Präsidentschaft war. Imamoglu, schreibt Mumay im April 2024, sei für „die Wähler der Opposition zum Rockstar“ geworden. Das beflügele Hoffnung bei jenen, die die Türkei bereits aufzugeben bereit waren.

Nun lebt und arbeitet Mumay in Istanbul, eine traditionell Europa zugewandte, weltoffene Metropole. Das mag besonders empfänglich machen für Anzeichen einer möglichen Veränderung. Und das erklärt ganz sicher auch Mumays eindringliches Plädoyer, die Türkei nicht links liegen und die europafreundliche Hälfte der Bevölkerung im Stich zu lassen. Dass seine Bewertung Imamoglus gleichwohl nicht dem Überschwang aufkeimender Hoffnung zuzuschreiben ist, zeigen die jüngsten Ereignisse im Land: die Verhaftung und Anklage Imamoglus wegen angeblicher Korruption und seine zwischenzeitliche Amtsenthebung als Bürgermeister Istanbuls. Damit bestätigt Erdogan die (aus seiner Sicht) Gefährlichkeit dieses demokratischen Konkurrenten. Die Massendemonstrationen für Imamoglu, die der Verhaftung folgten, machen wiederum deutlich: Der Wille mindestens der Bevölkerung der Städte, den Ausnahmezustand doch nicht mehr als Normalzustand zu tolerieren, wächst. Man darf also mit Spannung auf die Wahlen 2028 blicken. Es ist zumindest nicht länger auszuschließen, dass sie ein Ergebnis zeitigen, in dessen Folge die zweifellos noch vorhandenen Reste demokratischer Prozesse im der Türkei endlich wieder an rechtsstaatliche Verhältnisse gekoppelt werden.

Nebenbei bemerkt enthält der Band durchaus auch eine noch nicht einmal sonderlich subtile Botschaft für die deutsche Gegenwartspolitik. Nämlich die Leicht(fert)igkeit, mit der eine illiberale, nationalistische und populistische Partei unter machtbewusster, charismatischer Führung eine verfassungsändernde Mehrheit zur Demontage der freiheitlichen Demokratie missbraucht. Wehret den Anfängen, möchte man ausrufen. Denn in einigen ostdeutschen Ländern und künftig auch im Bundestag verfügen solche Kräfte bereits über Sperrminoritäten für Verfassungsänderungen.

Eine sehr empfehlenswerte Lektüre also, keineswegs nur für Türkeiinteressierte. Und auf jeden Fall ein Riesenappetithappen für die künftigen Kolumnen Mumays.

Dr. Ulrich Strempel