Reinhard Müller: „Deutsche Dogmen “


Frankfurter Allgemeine Buch,
1. Auflage vom 23.9.2025;
ISBN: 978-3-96251-231-6;
176 Seiten;
22 Euro

Erfrischungshäppchen – das beschreibt vielleicht ganz gut das äußerst lesenswerte Büchlein des leitenden FAZ-Redakteurs Reinhard Müller. 20 „Dogmen und Marotten“ werden unter die Lupe genommen – oder sagen wir: im Spiegel betrachtet und daraufhin abgeklopft, ob der auf dem untersuchten Allgemeinplatz umherstolzierende Kaiser tatsächlich neue Kleider trägt oder in Wirklichkeit doch einfach nur nackt ist. Müller geht es ganz offensichtlich nicht darum, einen Kulturkampf um Begriffe zu führen, denn natürlich dürfe „alles sagen und glauben“. Aber gefährlich werde es, „wenn Irrtümer sich verfestigen und man etwa Recht und Unrecht nicht mehr trennt oder glaubt, alles sei erlaubt“. Wohl wahr!

Besonders schön nachzuvollziehen ist das am Kapitel „Ziviler Ungehorsam ist Pflicht“. Vom schlechten Gewissen geplagt, dass ihre Vorfahren in den Nationalsozialisten nicht mehr Widerstand entgegengebracht haben, beweisen viele heute ´Gratismut´, in dem sie rechtswidrige Aktionen gegen demokratisch getroffene Entscheidungen, die ihnen persönlich nicht gefallen, als ´Widerstand´ heroisieren. Auf Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes können sie sich dabei nicht berufen, weil selbst als unzureichend eingeschätzte Klimabeschlüsse die demokratische Ordnung nicht „beseitigen“. Zudem gibt es im Rahmen der Gesetze und dank der weit ausgebauten demokratischen und publizistischen Teilhabemöglichkeiten in unserem Land ausreichend Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Und doch kann man am Ende in der Minderheit bleiben. ´That´s democracy, stupid!´, möchte man rufen. Müller formuliert es besser: „Ungehorsam gegenüber demokratischen Gesetzen führt geradezu zur Abschaffung der Demokratie“.

Auch innerhalb der einzelnen Kapitel gelingen Müller Gedankensprünge, die auf den ersten Blick überraschen. So hat das Grundrecht auf Asyl auf den ersten Blick mit dem Staatsangehörigkeitsrecht nichts zu tun. Unstreitig aber haben Asyl- und Einwanderungspraxis die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert. Und mit zunehmend erleichterter Einbürgerung auch das Staatsvolk – was an sich kein Problem ist. Trotzdem ist der Hinweis auf das Verfassungsurteil zum Maastrichtvertrag interessant, das die demokratische Legitimation der Entscheidungen der EU mit relativer Homogenität der Völker verknüpfe. Diese ist durch unsere Staatspraxis zweifelsohne verringert worden, weil das ´Dogma´ vom „Asyl für alle“ zu oft gedankenlos nachgeplappert wird. Faktisch wird durch Nutzung dieses moralisch unterlegten Begriffs schlicht ein Recht auf Einwanderung nach Deutschland konstruiert, das es weder gibt noch für die ganze Welt geben kann.

Wunderschön auch die Auseinandersetzung mit einem anderen Begriff: Während das Grundgesetz „Gleichberechtigung“ fordert, ist politisch heute meist von „Gleichstellung“ die Rede, was allzu oft das Ergebnis meint. Also „Parität“ etwa bei der Besetzung von Parlamentsmandaten, statt freie Auswahl von Kandidaten auf Basis jeweils gleicher Rechte und Chancen. Immer wieder geht es in den einzelnen Kapiteln auch um das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gruppe, seiner Gemeinschaft, seinem Staat und Volk. Und umgekehrt: Wie geht ´der Staat´ mit seinen Bürgern um oder wie versteht die Kirche ihre Rolle in der Welt? Und darf Demokratie, die Mehrheit, wirklich alles? Können wir auch etwas anders als Opfer sein? Denkstoff ohne Ende.

Ich kann mir vorstellen, dass man anhand der 20 kleinen Häppchen 20 interessante Diskussionen im Familien- oder Freundeskreis führen kann. Müller bezieht fundiert Stellung, führt meist aber auch andere Zugänge zum Thema an, so dass man eine offene und breite Ausgangsbasis hat. Warum also nicht die Texte als ´Hausaufgabe´ verteilen und beim nächsten Plausch mit Söhnen, Töchtern, Eltern oder im Freundeskreis diskutieren. Es muss ja nicht immer nur über´s Wetter gesprochen werden. Probieren Sie es aus! Vielleicht finden Sie dann auch heraus, warum das Titelbild und die einzelnen Kapitel jeweils mit einem entsprechend staffierten Schäferhund illustriert sind.

Ansgar Hollah, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins „Europa sein“ e.V., Kehl / Berlin, 23.10.2025