Gut 150 Seiten einer Alt-Politikerin „über Mut“…

Rita Süssmuth:
„Über Mut“. Vom Zupacken, Durchhalten und Loslassen.
Bonifatius Verlag. 19. Juni 2024 . 160 Seiten, gebunden.

EUR 18,00 (D)/EUR 18,50 (A). at: 12,5 x 20 cm.
ISBN: 978-3-98790-052-5

Das Buch der ehemaligen Bundestagspräsidentin und Bundesministerin Rita Süßmuth hätte auch eine belanglose Ansammlung von ´früher-war-alles-Besser-Anekdoten´ sein können. Ist es aber nicht. Vielmehr sprüht es voll Zuversicht und zeigt auf, wie und „dass wir etwas ändern können – wenn wir es nur wollen und zupacken“. Dabei kommt Süßmuth aber nicht belehrend oder wissenschaftlich-verquast daher. Vielmehr hat man oft das Gefühl, dass sie direkt von einem sitzt und erzählt – so lebendig ist der Bericht über die Grunderkenntnisse ihres Lebens verfasst. Eine lesefreundliche Schriftgröße und das handliche Format des kleinen Bandes tun ein Übriges.

Rita Süßmuth wurde 1937 geboren, war also noch nicht einmal zehn Jahre alt, als Europa nach dem von Deutschland entfesselten Krieg materiell und moralisch in Trümmern lag. Woher also die Hoffnung und die Kraft nehmen, sich nicht in im tiefsten aller Tiefs zu verlieren, sondern das Leben und die Zukunft in die Hand zu nehmen? Schon auf der ersten Seite des Prologs verrät sie ihr „Lebensmotto“: Den Winston-Churchill-Satz „Einmal mehr aufstehen als hinfallen“ habe sie sich schon als junge Frau zu eigen gemacht und „nie mehr aus den Augen verloren“. Geholfen hat sicher auch ihre feste Verwurzelung im christlichen Glauben, den sie von Beginn an „nie verzückt, nie dogmatisch, nie angstbeladen, keinesfalls auf Knien rutschend, sondern pragmatisch und offen“ und damit als Stärkung der Persönlichkeit erleben durfte.

In sieben Kapiteln schlägt Süßmuth einen Bogen, der ihre Herangehensweise an die Analyse von Problemen und Gestaltung der Welt deutlich machen. Zunächst beginnt auch Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Wobei man sich von der Fülle und Komplexität der Probleme nicht von Angst überwältigen lassen sollte – oder wie sie so schön schreibt: „Bangemachen gilt nicht“. Dazu passt, dass sie Angst „als ganz normales Gefühl“ und als „durchaus hilfreich“ einstuft und am liebsten „als produktive Vorsicht definieren“ und einsetzen möchte. In der Tat: Nur so kann aus Risiken eine Chance werden und aus Problemen eine Lösung erarbeitet werden. Und für die Auseinandersetzungen in unserer zunehmend fragmentierten Parteien-Demokratie ist eine Anmerkung ihres Vaters wichtig: „Bedenke stets, dass auch der andere einmal Recht haben könnte!

Womit wir bei dem Kernanliegen ihres Buches „Über Mut“ (nicht Übermut…) wären. Über Dinge nachzudenken oder über sie zu reden, reichte ihr nie. Wenn man die Welt verändern ‑ verbessern ‑ wolle, müsse man anpacken, sich für einen Standpunkt entscheiden, sich auch einmal mutig gegen andere positionieren. Sie beschreibt das schön etwa beim Blick auf die gelegentlichen Auseinandersetzungen der Bundesministerin Süßmuth mit Bundeskanzler Kohl oder innerhalb ihrer Partei, der CDU. Aber nicht der Rückblick dominiert, sondern die Analyse heute aktueller Probleme und das Aufzeigen möglicher Lösungsansätze. Rita Süßmuth will auch in ihrem Alter nicht schweigen, denn „tatenlos mit den Händen im Schoß auf das Ende warten – das werde ich nicht tun“. Auch das übrigens ein Mut machender Aspekt dieser Veröffentlichung: Es ist nie zu spät.

Süßmuth gelingt eine gute Verknüpfung aktuellster Geschehnisse mit Lehren aus der Vergangenheit. „Die Klimakrise, der Jemen, die Terrorangriffe der Hamas und die erwartbaren Folgen für Gaza und seine Bevölkerung, die Unterdrückung der Menschenrechte im Iran, in Syrien, in China“ sind Thema und werden ebenso klar benannt und analysiert wie Russlands Imperialismus und der naive Weg des Westens in die Rohstoffabhängigkeit und Kriegsuntüchtigkeit. Authentisch beeindruckend sind ihre Schilderungen, wie ihre Schwestern und sie in der schier aussichtslosen Nachkriegszeit, in der zudem die Mutter krank wurde, Verantwortung übernahmen und anpackten. Ein weiterer Gedanke, den sie mit Beispielen aus ihrer politischen Karriere würzt.

Hier wird aber auch deutlich: Das Buch ist mehr eine – gute! ‑ lebenskundliche Orientierungshilfe, weniger eine reine Faktensammlung. So begann der offene Überfall Russlands auf die Ukraine nicht am „20. Februar 2022“, sondern zwei Tage später. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland fand nicht „im Jahr 1948“, sondern 1949 statt. Und in der Kubakrise 1962 war es nicht „Russland“, dass die Raketen zurückbeorderte, sondern die Sowjetunion. Über Fakten kann man schwer streiten, über politische Einschätzungen schon:

So ist es vielleicht doch kein „beispielloser Vorgang in unserer demokratischen Geschichte“ gewesen, als der politische Aschermittwoch der Grünen in Biberach 2024 mit Gewalt behindert wurde. Ich erinnere mich etwa daran, dass in den 1980ern Rede- und Diskussionsveranstaltungen von Bundesumweltminister Töpfer in Münster/Westf. wegen akustischer und körperlicher Blockadegewalt abgebrochen werden musste. Und ob unser westlicher Lebensstil wirklich „nur auf Kosten anderer ausgebeuteter Länder möglich“ war, dürfte der eine oder andere Ökonom differenzierter sehen. Abschließend ist es vielleicht kein Zufall, dass eine andere prägende Gestalt der deutschen Nachkriegsgeschichte eine sehr ähnliche Lebensphilosophie verkörperte: Ich erinnere mich an einen Besuch im Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf, wo es als kleine Werbeaufmerksamkeit eine Tasse mit dem Aufdruck eines Adenauer-Zitates aus dem Jahr 1963 gab: „Das Wichtigste ist der Mut“. Bis heute eine meiner Lieblingstassen… Vielleicht habe ich auch deswegen das Buch so gerne gelesen.

Ansgar Hollah, Vorsitzender des Vereins „Europa sein“ e.V.