Klaus-Rüdiger Mais Merkel-Biographie hat ganz starke Seiten – jene, auf denen er (aus eigener Anschauung wohl) den vergreisenden, Ende der 1980er Jahre implodierende SED-Staat beschreibt und die Suche nach dem illusorischen „dritten Weg“ zwischen sozialistischer Diktatur und demokratisch verfasster Marktwirtschaft. Spannend auch die Behandlung der Rolle des Pfarrer-Vaters, dessen Regimenähe zur SED im Rahmen der „Kirche im Sozialismus“ der jungen Angela verschiedentlich nützlich gewesen sein dürfte.
Das Buch schwächelt freilich, wenn es um Angela Merkel geht, mit der Mai anscheinend nicht selbst gesprochen hat. Jedenfalls liefert der Text keine Hinweise darauf. Denn alle Merkel-Zitate sind aus zweiter Hand, meist veröffentlichte Quellen wie Interviews oder andere Biographien. Das nimmt zwar Wunder bei einer noch lebenden Person der Zeitgeschichte, muss aber nicht unbedingt der Analyse abträglich sein – wenn sie wissenschaftlichen Kriterien genügte. Dem eigenen im Klappentext formulierten hehren Anspruch, es gehe nicht um „die Dämonisierung …, nicht um Verschwörungstheorien …, sondern es geht um die kühle und glasklare historische Analyse“, freilich wird das vorliegende Werk kaum gerecht.
Nicht nur, dass der Stab über Angela Merkel von Anfang an gebrochen ist als empathielos-kühl berechnende, machtbewusste (welcher führende Politiker wäre das nicht?), Deutschland und ihre eigene Partei ablehnende bis verachtende, zur Autokratie neigende Frau, deren aus Mais Sicht schädliche Politik immer wieder unverdient das Glück zu Hilfe kam. Immer wieder führt er ihr „alternativlos“ als Beweis für autokratische Neigung an. Und übersieht bewusst, dass Merkel selbstredend andere Handlungsmöglichkeiten stets erkannte, sie aber als weniger zielführend ausschloss. Auch Quellenkritik findet bei Mai nicht immer statt; sogar Wikipedia wird bemüht, wenn es nur in das zeitgeistige Merkel-Bashing passt.
Häufig kann Mai allerdings nur mutmaßen oder Hörensagen anführen. Auch sein Vokabular ist weit entfernt von wissenschaftlicher Objektivität. „Staatsmedien“, „Geschichtsdilettantismus“, „Gewerkschaftsstaat“, „grünorthodoxe Präsidialkanzlerin“ oder ihr vermeintlicher Versuch, die CDU „gleichzuschalten“: Gepaart mit einem klar EU-kritischen Unterton Mais liest sich das seitenweise gewollt oder ungewollt wie ein Redemanuskript von Alice Weidel (u.a. im Kontext der Corona-Pandemie).
Widersprüchlich ist zudem, dass Mai mal auf Merkels Ostbiographie rekurriert, nur um ihr an anderer Stelle die „Ostfrau“ abzusprechen, da in Hamburg geboren. Mai geht so weit, Merkel „kalte Verachtung für den Osten“ anzulasten mit Argumenten, die eher tiefe Einsichten in seine eigen Befindlichkeiten als Ostdeutscher offenbaren denn in das Denken der Kanzlerin. Hinzu kommen Anwürfe, die schlicht abstrus sind, beispielsweise dass ihre resolut transatlantische Haltung (immerhin Kern-DNA der CDU) zur Zeit des Irakkriegs mitursächlich wäre für den Terroranschlag vom 7. Oktober 2023.
Wie weit entfernt Mai von der wirklichen Persona Merkel oft ist, zeigt die griffig formulierte Behauptung, sie kenne das wiedervereinigte Deutschland „nur vom Dienstwagen“ aus. Das könnten beispielsweise zig Berliner widerlegen, die Merkel mal auf dem Weg vom Kanzleramt zu ihrer Wohnung beim Einkauf im Supermarkt im Bahnhof Friedrichstraße erlebt haben – die Personenschützer diskret im Hintergrund.
Selbstverständlich ist Angela Merkel und ihre 16-jährige Kanzlerschaft nicht über berechtigte Kritik erhaben. Es ist beispielsweise richtig, wie Mai darlegt, dass viele in der CDU über Merkels Distanz zu ihrer Partei nach dem Ausscheiden aus dem Amt enttäuscht oder zumindest befremdet sind. Nach Fukushima den Ausstieg aus der Kernenergie zu forcieren, war weder sachlich, noch energie- oder gar klimapolitisch zu rechtfertigen, sondern eine wahltaktische Fehleinschätzung. Es stimmt auch, dass sie der vom Koalitionspartner SPD verfolgten stramm pro-russischen Politik bedauerlicherweise nicht nur keinen Einhalt geboten, sondern sie mitgetragen hat (und noch heute rechtfertigt). Ironisch ist hier, dass Mai, der Merkel als beste Kanzlerin der Grünen apostrophiert, ihr richtigerweise den Bau von North-Stream 2 ankreidet aufgrund der damit wachsenden Abhängigkeit vom vermeintlich billigen russischen Gas. Dabei hatten gerade die Grünen diese Pipeline stets abgelehnt.
Gleichwohl verrennt sich Mai verschiedentlich in seiner politischen Kritik. Beispiel Maastricht-Vertrag und Euro: Abgesehen davon, dass Deutschland ein großer Nutznießer der Gemeinschaftswährung ist, war ihre Einführung keineswegs der Preis für die Zustimmung zur Wiedervereinigung beispielsweise durch Frankreich. Kohls Zugeständnis bestand vielmehr darin, den Aspekt der politischen Union nicht mehr als gleichwertiges/geichzeitiges Ziel zu verfolgen. Genau die würde aber der europaskeptische Mai nicht wollen, obwohl sie viele der späteren Probleme des Euro wenn nicht gar verhindert, so zumindest doch stark abgemildert hätte. Die große Anerkennung für Merkels Agieren in der Eurokrise negiert Mai völlig.
Zweites Beispiel: die Flüchtlinge 2015. Aus Mais Sicht hätte das abgewendet werden können wäre Merkel nicht so zögerlich vorgegangen (wie sagt er freilich nicht). Er unterstellt der „grünen“ Merkel, bewusst durch Multikulturalismus die Gesellschaft spalten und weg vom Deutschen ändern zu wollen. Recht hat er in zweifacher Weise: Tatsächlich hatte Deutschland Griechenland und Italien in der Flüchtlingsfrage lange und sträflich allein gelassen. Und die darauf folgende (aber nicht dadurch ausgelöste) Migrationswelle ist zu einer großen innenpolitischen Herausforderung geworden.
Kann man aber tatsächlich christlich-ethische Empathie angesichts einer humanitären Notlage großen Ausmaßes als Motiv vom Tisch wischen? Wohl kaum, umso weniger, wenn man bedenkt, dass die Kanzlerin erst kurz vorher medial als herzlos gegeißelt wurde: Bei einem Townhall brach ein kleines Flüchtlingsmädchen in Tränen aus, als Merkel ihr sachlich darlegte, weshalb nicht alle Flüchtlinge in Deutschland bleiben können. Merkel war menschlich sehr betroffen.
Merkels und Faymanns eigentlicher Fehler lag 2015 auch woanders. Was wie ein österreichisch-deutscher Alleingang wirken musste, war einfach unzureichend europäisch eingebettet. Und was als Ausnahme gedacht war, konnte sich perpetuieren, weil dieser Aspekt kaum, wenn überhaupt in der Kommunikation zum Tragen kam.
Was bleibt als Fazit? Man kann dieses Buch lesen, mit dem stets etwas schuldbewussten Vergnügen, welches flott geschriebene Polemik auslöst. Man kann es aber auch lassen, denn weder kennt noch versteht man die wirkliche Angela Merkel nach der Lektüre besser. Hilfreicher wäre da gewiss ein (kritischer) Blick in ihre eigenen, kürzlich erschienenen Erinnerungen unter dem vielsagenden Titel „Freiheit“
(Rezension von Ulrich Strempel.“C’l’Europe“/“Europa sein“. Berlin.17.12.2024)