In Memoriam Alexeï Navalny. Die Lage der Opposition nach seinem Tod

Die russische Exilopposition ist gespaltener denn je. Putin ist auf einem guten Weg, seine Ziele zu erreichen. Wie konnte es dazu kommen?

Um darauf eine Antwort geben zu können, blicken wir doch zunächst auf den 17. Januar 2021. An diesem Tag kehrte Alexej Navalny nach dem überstandenen Vergiftungsversuch nach Russland zurück und wurde sofort verhaftet. Drei Jahre später, am 16. Februar 2024 wurde er ermordet. Sowohl in Russland als auch im Exil gab es keine einzige oppositionelle Gruppe oder Organisation, die anlässlich all dieser Ereignisse sich nicht verpflichtet fühlte, gegen Putin die Stimme zu erheben, denn gegen ihn zu kämpfen, war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle Gruppen einigen konnten.

Im Februar 2022 startete Putin einen der blutigsten Konflikte der europäischen Nachkriegszeit und unsere anfängliche Einigkeit bekam Risse. Der Mord an Nawalny überbrückte diese Risse, aber nur vorübergehend. In Russland brachte eine große Menschenmenge rote und weiße Nelken zu seinem Grab auf dem Borissow-Friedhof bei Moskau und zu seinen improvisierten Gedenkstätten in allen großen Städten des Landes. Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen hatten den Mut, im Chor „Putin – Mörder“ zu rufen. Es bestand kein Zweifel an der Existenz eines entschlossenen russischen Widerstands. Das gab den Aktivisten im Exil eine große Hoffnung, dass das “Wunderbare Russland der Zukunft“ – die Vision von Nawalny, doch möglich sein könnte. Wieso ist es heute anders?

„Gegen Putin“ ist das Problem

Immer wenn wir in den letzten Jahren und insbesondere nach dem Februar 2022 protestiert haben, im Rahmen von Versammlungen, Demonstrationen oderKulturveranstaltungen – richtete sich unser Protest immer nur gegen Putin. So wurden die russischen Präsidentschaftswahlen 2024 von der Aktion „Mittag gegen Putin“ weltweit begleitet. Wir haben Putins Gegenkandidaten eine Stimme gegeben, zum Beispiel Boris Nadeschdin oder dem, allerdings systemtreuen, Dawankow. Wir nutzten jede Gelegenheit, um zu zeigen – wir sind gegen Putin. Mit diesem Standpunkt waren wir automatisch gegen Krieg, gegen Tyrannei und für Europa.

Julia, die Witwe von Alexej Navalny, gab in ihren Interviews Putin persönlich die Schuld an der durch Russland verursachten Misere. Auch die Anfang August 2024 ausgetauschten politischen Gefangenen Ilya Yaschin, Wladimir Kara-Murza und Andrey Piwowarov sprachen in ihrer Pressekonferenz nach der Freilassung vom “schlechten Putin” und den “guten Russen”. Aber ist dem wirklich so? Trifft die “guten Russen” keine Mitverantwortung?

Die Logik scheint folgende zu sein: Der Fisch stinkt vom Kopf, also ist Putin der Alleinschuldige. Das ist ein einfaches Weltbild mit einer einfachen Lösung: ”No Putin – No War”, (kein Putin – kein Krieg).

Kann ein Autokrat im Alleingang aus einem Land einen monströsen Aggressor und eine Gefahr für ganz Europa machen? Oder benötigt man dafür einen fruchtbaren Nährboden, der zuvor bestellt wurde? Schreibt Putin die repressiven Gesetze selbst an seinem Arbeitstisch? Schießt er die Raketen persönlich ab und lässt die russischen Straßen, Häuser, Bildung und Medizin verkommen? Ist es nicht vielmehr das willfährige System und eine Kultur, die schon vorher existierten, deren Kind Putin ist? Er weiß das System für seine Zwecke zu instrumentalisieren und selbst wenn er nicht mehr da sein sollte, wird das System bleiben. Die darin herrschenden “Naturgesetze” werden unweigerlich einen neuen Putin hervorbringen. So hat sich niemand das “Wunderbare Russland der Zukunft” ohne Putin vorgestellt.

Es ist das System

Die erschreckende Erkenntnis vieler Exilaktivisten und besonders jener, die schon lange in Europa leben, ist, dass dieses System in Russland allgegenwärtiger ist als wir es wahrhaben wollen. Zwar verlor Putin seine Präsidentschaftswahl vielerorts im Ausland laut unseren Exit Polls, aber wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass er sie auch in Russland verloren hätte. Selbst ohne Wahlfälschungen hatte er eine gute Chance auf einen Sieg – davon sind viele überzeugt.

Es ist ein reziprokes Spiel des Menschen mit den Umständen und der Umstände mit dem Menschen. Seit 1917 die Bolschewiki an die Macht kamen, wurde ein ideologisches Kontrollsystem etabliert, aus dem sämtliche Generationen der modernen Staatsbürger Russlands hervorgegangen sind. Die Erinnerung an das Leben vor 1917 wurde brutal ausgelöscht. Damit wurden Umstände geschaffen, die die Menschen nachhaltig und über Generationen hinweg geprägt haben. Diese Prägung ist in den Köpfen und in den Seelen der Russen. Sie wird durch Propaganda genährt, die die andauernde, angebliche Kränkung durch den Westen sogar feiert und für maximale Vereinzelung des Individuums und damit für Misstrauen gegenüber allem und jedem in der Gesellschaft sorgt. Die Menschen, die Blumen zum Grab von Nawalny trugen, leben auch in diesem System und bis zu einem gewissen Grad leben sie seine Werte, auch wenn sie diese gleichzeitig ablehnen. Das nennt man treffender Weise “Doppeldenk”. Die Mehrzahl realisiert die eigentliche Lage nicht. Und wenn manche es doch tun, dann sind diese wenigen die einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Es ist bitter und schmerzhaft zu sehen, wie viele Exilrussen, die nach Februar 2022 aus Russland geflohen sind, und Putin ablehnen, sein System dennoch in sich tragen. Sie wundern sich über unsere Ablehnung der AFD oder der russischen Trikolore bei Antikriegsdemos und über unsere Unterstützung der Ukraine. Es ist ein großes Problem und es bedarf einer Grundsatzdiskussion aller Exilaktivisten über unsere Ideen für die Zukunft, über die Perspektiven von Russland und über unsere Werte sowie auch unsere Verantwortung.

Überschätzen wir uns nicht. Wir sind David gegen den Goliath vom Putins Staat, von seiner Propaganda und seiner Armee. Doch kürzlich las ich ein Zitat einer amerikanischen Ethnologin: „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe aufmerksamer, engagierter Bürger die Welt verändern kann. Tatsächlich ist das das Einzige, was jemals passiert ist.“. Sie hieß Margaret Mead (1901-1978).

(Natalia Korotkova istRussin und Deutsche. Sie ist Vizepräsidentin des Vereins „Freie Russen e. V.“ in München. Oktober 2024 – Januar 2025)

Wer ist der Kriegstreiber? Der sog. Putin. Keine Kollektivschuld, bitte. Nicht alle Russen sind schuldig mit Ausnahme seiner leider zahlreichen Komplizen und Followers in und ausserhalb Russslands.