Der Titel des Buches könnte „Tod der Illusionen“ lauten, weil die beiden Helden weder die Zeit noch die Möglichkeiten hatten, ein erfolgreiches Leben aufgrund von Erfahrungen (Lehrzeiten) zu gestalten. Sie lebten ihr kleines Leben in der DDR am Rand der Sowjet-Hölle. Schon um Höllen identifizieren lernen, muss dieses Buch gelesen werden.
In den letzten 1980er Jahren war der 1949 von Walter Ulbricht gegründete ostdeutsche Staat ausgelaugt. Tiefe Langeweile und Motivationsverlust lähmten jegliche produktive und innovative Tätigkeit. Die Industrie- und Verwaltung waren defekt und sklerotisch. Die DDR überlebte mühsam in einem veralteten und erdrückenden Kommunismus. Die Partei und die Stasi waren das letzte Skelett, das sie aufrecht hielt und ein wenig rotes Licht wie ein sterbender Stern verbreitete. Nur mittelmäßige Apparatschiks und kleine, profitgierige Tyrannen besetzten die lukrativen Positionen. Nur hie und da tauchte ein guter Mensch auf. Alles war nichts weiter als Routine, Wiederholung von Riten, deren Absurdität bekannt war, und leere Parolen, an die niemand mehr glaubte. Die Lüge war das Öl, das die Maschine am Laufen hielt. Der Lüge des Staates stand die Lüge der DDR-Bürger gegenüber, die nur durch Täuschung und „Vitamin B“ überlebten.
Abgesehen von modischer westlicher Musik, die elektronisch allgegenwärtig war, gab’s die Erotik, wie es in Diktaturen der Fall ist, in denen Sexualität im Allgemeinen der einzige Raum der Freiheit und der einzige Luxus ist, der für fast jeden erreichbar ist. Sonst gab es nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. In diesem dunklen Universum treffen sich Romeo und Julia, also Eric und Emilia, die beiden „E“, die romantisch-erotische Momente am Ende ihrer Jugend erleben. Sie ist in der Praxis der körperlichen Liebe bereits Expertin, er ist eher Anfänger, er lernt es von ihr, wie das ist, aber sie hat Träume, ihre Nerven sind schon ziemlich kaputt, sie holt dennoch ihren unerfahrenen Freund aus seiner Lethargie und gibt ihm Hoffnung auf ein neues Leben. In ihnen entsteht die Idee, ihre wirklichen Talente zu entfalten und daraus Karriere machen zu können. Aber es stellt sich heraus, dass die Wege dorthin Sackgassen sind und wenn sich die Wege verschließen, bleibt nur noch die Zwangsvorstellung ins kapitalistische Paradies zu fliehen.
Emilias Flucht in den Westen erweist sich als keine Lösung und führt dazu, dass Eric die kafkaesken Praktiken des Stasi-Krakens erlebt, der alles und sich selbst verdächtigt und betrügt. Eric, der in der DDR geblieben ist, rennt gegen die Wand. Er erkennt, dass er trotz all seiner Bemühungen und seiner wahren Liebe die Realität seiner Freundin und ihrer Gefühle verkennt hat, die von der bürokratischen Spirale viel stärker erdrückt als er wurde.
Das ist die Lehre dieser beiden modernen Nachkommen vom Wilhelm Meister Goethes und seiner „Lehrjahre“. Sie hätten zusammen glücklich sein können, aber sie lebten in der fiktiven Realität eines absurden Regimes, das aus einer wahnhaften Ideologie hervorgegangen war. Eine Flucht in den mythischen, real existierenden Westen war auch für sie keine Lösung, wie wir am Ende lapidar, brutal und unerwartet erfahren. Klar: Ein Happy End war ja ausgeschlossen.
Der Kalte Krieg stand kurz vor seinem Ende und der Vorhang fiel auch für die kleinen Leute, die Opfer eines verrückten Systems waren, das auf den zerschellten Illusionen des Kommunismus ruhte. Der russische Dichter Sergei Essenin (1895-1925), der anfangs daran geglaubt hatte und zum Beginn der Stalin-Ära Selbstmord beging oder ermordet wurde, schrieb: „Das Boot der Liebe zerbrach am Alltag.“ Erics und Emilias Boot der Liebe zerbrach, als sie geradezu Mann und Frau in einer ungerechten und verlogenen Welt geworden waren.
Die DDR-Sowjetideologie und die Mauer in Deutschland haben wie Mühlsteine Menschen zermalmt. Dabei hieß der Wahlspruch der DDR „Im Mittelpunkt steht der Mensch“. Tja, im Mittelpunkt der Unterdrückung.
(Rezension von Jean-Paul Picaper, „C’l’Europe“, Straßburg. Dezember 2024)