Dr. Peter H. Grassmann. „Wir brauchen eine bessere Demokratie“. eBook, tolino media GmbH & Co. KG, München; ISBN: 978-3-8194-0459-7; 125 Seiten; Erscheinungstag: 1. Mai 2025; 6,99 EUR
Der erste Eindruck vorweg: Das Buch gibt viele interessante Denkanstöße, ist flüssig geschrieben und lässt sich sehr gut an einem Sonntagnachmittag locker und bequem weglesen. Manchmal scheint es aber auch, dass es an nur einem Sonntagnachmittag geschrieben worden ist. Doch der Reihe nach:
In diesem Jahr ist das deutsche Grundgesetz seit über einem Dreivierteljahrhundert in Kraft und fast die Hälfte der Zeit, seit 35 Jahren, gilt es nun im wiedervereinten Deutschland. Die Menschen und die Institutionen, die es mit Leben füllen, haben es stark gemacht. Aber nichts ist so gut, dass es nicht verbessert werden kann. Und nichts, was lange währt, bringt nicht auch Fehlentwicklungen oder Verkrustungen hervor. Dr. Peter H. Grassmann, zehn Jahre vor Gründung der Bundesrepublik geboren, blickt als promovierter Physiker und erfolgreicher Unternehmenslenker auf die Entwicklung des politischen Systems in Deutschland.
Das unrühmliche Ende der ´Ampel-Koalition´ aus SPD, Grünen und FDP hat bei ihm offenbar den Impuls ausgelöst, seine bisherigen Gedanken zusammenzufassen. Da er kein Politikwissenschaftler oder ´Polit-Profi´ ist, gelingen ihm interessante Ansätze. Und ja, die Analyse gleich zu Beginn, dass sich repräsentative Partei-Demokratien zu abgeschotteten und ins Autokratische driftende Systeme entwickeln können, ist nicht von der Hand zu weisen. Ein Beispiel – nicht genannt, aber passend – ist, wenn Angriffe etwa auf Politikerinnen künftig stärker bestraft werden sollen als solche auf Müllwerker. Ziel: Schutz unserer Demokratie; Wirkung: Bürger erster und zweiter Kategorie.
Das höhlt das System von innen ebenso aus, wie das von SPD, Grünen und FDP ´deformierte´ Bundestagswahlrecht, das Grassmann gleich zu Beginn seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Lage im Land thematisiert. Ein Ergebnis der Ampel-Wahlrechtsreform war, dass in bestimmten Fällen zum ersten Mal seit 1949 erfolgreiche Wahlkreiskandidaten zu Gunsten von Partei-Listenkandidaten auf ihr Mandat verzichten müssen – was in der Tat wohl kaum jemand für sonderlich demokratisch oder nachvollziehbar halten dürfte.
Schade nur, dass Grassmann bezüglich der Zahlen bei der rechtlichen Ausgangslage (nirgendwo mehr ist die Zahl von 598 Abgeordneten festgeschrieben) und den Auswirkungen des Ampelwahlrechts (nicht 41, sondern 23 Wahlkreisgewinner blieben außen vor) daneben liegt. Aber seine Vorschläge zum Wahlrecht sind verständlich geschrieben, fundiert und beachtenswert.
Weiterer Klärung bedarf sein Konzept für „parteiübergreifendes Regieren“. Koalitionen hält er anfällig dafür, ins Autokratische abzudriften oder die Kluft zwischen Wählern und Gewählten weiter zu vergrößern. Aber jede Koalition ist doch genau das: Parteiübergreifendes Regieren! Das Problem dabei scheint doch eher zu sein, dass Kompromisse gemacht werden müssen und keine Seite ihre Politik pur umsetzen kann. Das führt durchaus zur Verwirrung und Verärgerung der jeweiligen Parteianhänger. Ein Teil des Publikums wendet sich ab, ein anderer organisiert immer neue Parteien und damit die weitere Zersplitterung und Selbstlähmung des Systems.
Der Hinweis auf die „Schweiz als ´Best Practice´“ kann also nur meinen, dass er JEDE Partei in der Reihenfolge ihre Wahlergebnisses an der Regierung beteiligt sehen will. Ja, das ist in der Tat ein Modell, das für eine sich immer weiter zersplitternde Parteienlandschaft eine befriedende Wirkung haben könnte, weil die koalitionäre Konfrontation zwischen Regierung und Opposition entfiele. Neu wäre das in Deutschland zudem nicht, wenn man etwa an die Besetzung der bezirklichen Stadträte in Berlin denkt. Und es wäre ohne Grundgesetzänderung machbar – hieße dann allerdings vermutlich „Allparteien-Koalition“. Ein Konzept, das nur ohne „Brandmauer“ denkbar ist.
Von der in Deutschland gewohnten Konfrontation zwischen Regierung und Opposition und der daraus abgeleiteten Lagerbildung allerdings leben viele Beteiligte: Parteien brauchen das zur Profilierung und die beobachtende Presse erzielt so mehr Auflage, Klicks und Einschaltquote. Wenn die Welt vor allem Schwarz/Weiß ist, lassen sich Gut und Böse – oder Böse und Gut –in den schillerndsten Farben darstellen und verkaufen.
Schade ist, dass Grassmann weite Teile seines Buches bzw. seiner Argumentation durch Wiedergabe von ChatGPT-Zitaten ´belegt´. Diese Passagen langweilen sehr, verheißen sie doch keinerlei neue Gedanken des Autors. Das ist so, als wenn man früher den Neckermann-Katalog auf der Suche nach den modernsten Ergebnissen aus der Produktforschung durchgeblättert hätte. Da MUSS man enttäuscht werden.
Falsch liegt Grassmann vermutlich mit seiner einleitenden Prognose, dass sich nach der jüngsten Bundestagswahl „wieder nichts Wesentliches ändern“ werde. Für den Bereich der Sozial- und Alterssicherungssysteme mag das gelten. Aber die nachvollziehbare und doch beinahe uferlose Lösung der Schuldenbremse werden viele, insbesondere jüngere Menschen in dieser Republik noch zu spüren bekommen. Wenn die Ausgaben erreichen, was sie sollen, dann aber immerhin in einem infrastrukturell erneuerten und vor den militärischen Angriffen fremder Mächte verschonten Land.
Richtig ist, dass Grassmann sich ernsthaft, mit Herzblut und fortgesetzt Gedanken über unser Gemeinwesen macht. Es ist nicht alles Gold, was in Sonntagsreden glänzt. Oftmals überkommt auch mich ein leiser Zweifel bei der Antwort auf die Frage, ob der Kaiser noch Kleider anhat oder nackt ist. Dinge von einer ungewohnten Perspektive aus zu betrachten und zu diskutieren, kann Horizonte öffnen und Verspannungen lösen. Insofern sei dem Autor sehr für seinen Beitrag gedankt in der Hoffnung, dass weitere konstruktive Gedanken folgen werden.
Ansgar Hollah, Vorsitzender des Vereins „Europa sein“ e.V., Kehl – Berlin, 29.6.2025